Unabhängig vom Staat, in dem sie ansässig sind, sind alle europäischen Bürger allem voran Bürger einer örtlichen Körperschaft, deren Regierungsvertreter sie gewählt haben. Städte und Regionen gelten somit als die erste Instanz der Demokratie; die Anerkennung der örtlichen Demokratie von Seiten der Mitgliedsstaaten des Europarates hat im Jahr
1985 zum Erlass der „Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung” geführt. Der Text unterstreicht die Bedeutung der Gemeinschaft als erste Ebene für die Ausübung der Demokratie. Der Vertrag gilt in diesem Bereich als internationaler Bezugspunkt;
die Charta gilt als Grundstein der Demokratie, da darin die Bestimmungen zum Schutz der Rechte der örtlichen Körperschaften festgeschrieben und die Staaten, welche die Charta ratifiziert haben, verpflichtet werden, eine gewisse Anzahl an Bedingungen, Grundsätzen und Vorgehensweisen einzuhalten. Die Charta ist am 15. Oktober 1985 zur Unterzeichnung aufgelegt worden und ist am 1. September 1988 in Kraft getreten. Die Charta ist von der italienischen Regierung am 11. Mai 1990 (Amtsblatt Nr. 14 vom 17. Jänner 1991) ratifiziert und in Italien am 1. September 1990 in Kraft getreten. Am 11. Mai 1990, hat die italienische Regierung anlässlich der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde folgende Erklärung abgegeben: „Mit Bezug auf die Bestimmungen des Artikels 12 Absatz 2 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung erachtet sich die italienische Republik an die Charta in ihrer Gesamtheit als gebunden”; im Oktober 2011 hat der Präsident des Verfassungsgerichtshofes Alfonso Quaranta in dem von M. Bellocci
und R. Nevola erstellten Dokument „Die Anwendung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung in Italien“ auf die Frage Nr. 2, die von der Delegation des Kongresses der Gemeinden und regionalen Behörden des Europarates anlässlich des Treffens mit dem Verfassungsgerichtshof vom 3. November 2011 gestellt worden ist, folgendermaßen geantwortet:
„Frage – Denken Sie, dass die Charta den Status einer Quelle des nationalen Rechtes, zumindest als Parameter zur Festlegung der Verfassungswidrigkeit eines ordentlichen Gesetzes, das in Widerspruch mit den in der Charta enthaltenen Bestimmungen steht, erlangen kann?
Antwort – Wenngleich das Verfassungsgericht im Bescheid Nr. 325 aus dem Jahre 2010 lediglich die bestimmende und programmatische Bedeutung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung bekräftigt hat (es werden der Art. 3 Absatz 1 und Art. 4 Absatz 2 und 4 zitiert), kann davon ausgegangen werden, dass diese, da sie ein Akt des Völkerrechtes ist, der mit einem ordentlichen Gesetz in die italienische Rechtsordnung übernommen worden ist, in die im Absatz 1 des Artikels 117 der Verfassung angeführten
Vorgaben fällt, der dem staatlichen oder regionalen Gesetzgeber die Einhaltung der aus den internationalen Verpflichtungen erwachsenden Einschränkungen auferlegt. Daraus folgt, dass die Charta – auch wenn ihre Bestimmungen kein Gebot darstellen – ein idealer Parameter für die Ausrichtung sowohl des Gesetzgebers, dem es nicht gestattet sein sollte, zu ihr in Widerspruch stehende Bestimmungen zu erlassen, als auch jener Subjekte ist, die die Bestimmung umsetzen und die angehalten sind, die geltenden Bestimmungen in Übereinstimmung mit den Verfügungen der Charta selbst anzuwenden“; die Charta schreibt vor, den Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung in den innerstaatlichen
Rechtsvorschriften oder der Verfassung anzuerkennen, auf dass eine konkrete Umsetzung derselben gewährleistet wird. Zudem werden darin die Grundsätze für einen demokratischen Ablauf in den kommunalen Gebietskörperschaften festgeschrieben;
das Autonomiestatut von Trentino-Südtirol schreibt im Artikel 47 fest, dass das Gesetz betreffend die Regierungsform, einschließlich des Gesetzes über das Initiativrecht der Bürger hinsichtlich der Landesgesetze und über die aufhebenden, einführenden oder konsultativen Referenden, in Übereinstimmung mit der Verfassung und den Grundsätzen der Rechtsordnung der Republik und unter Achtung der internationalen Verpflichtungen zu erlassen sind; das Zusatzprotokoll zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung über das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebietskörperschaften (STCE N° 207) erweitert die Charta (STE N° 122) „um eine neue Dimension, indem es eine internationale Rechtsgarantie für das Recht vorsieht, an den Angelegenheiten einer kommunalen Behörde mitzuwirken. Das Recht auf Mitwirkung an Angelegenheiten einer kommunalen Behörde bezeichnet das Recht zu versuchen, die Ausübung der Befugnisse und Aufgaben einer lokalen Behörde zu bestimmen oder zu beeinflussen. Parteien zu diesem Protokoll sind aufgefordert, die rechtlichen und anderweitigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern und dieses Recht auszuführen. Das Protokoll fordert außerdem, Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um sicherzustellen, dass die ethische Integrität und Transparenz bei der Ausübung der Befugnisse und Aufgaben der lokalen Stellen nicht durch die Ausübung des Rechts auf Mitwirkung gefährdet werden; der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas hat mit der Empfehlung 337 (2013) betreffend „die Demokratie in den Gemeinden und Regionen Italiens“ die italienischen Behörden im Punkt 5 Buchstabe k) aufgefordert, das Zusatzprotokoll (STCE N° 207) zu ratifizieren; die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, eine Einrichtung des Europarates und besser bekannt unter dem Namen „Venedig-Kommission“ hat im Gutachten 797/2014 betreffend den auf Volksinitiative beruhenden Gesetzentwurf „Politische Initiative der Bürger. Regelung der Beteiligung durch das Volk, der Gesetzesinitiative durch das Volk, der Referenden und Änderungen am Wahlgesetz der autonomen Provinz Trient (Italien)“ (1/XV), die Ansicht vertreten, dass der aufgrund eines Volksbegehrens eingebrachte Gesetzentwurf 1/XV ein positives Beispiel für die Umsetzung der oben angeführten Bestimmungen des Zusatzprotokolls darstellt und hat im Punkt 81 Italien vorgeschlagen, die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zur Charta in Erwägung zu ziehen.
Dies vorausgeschickt und berücksichtigt, fordert der Regionalrat der Region Trentino-Südtirol gemäß Artikel 35 des Autonomiestatuts das italienische Parlament und die italienische Regierung auf, damit diese sämtliche in ihren Zuständigkeitsbereich fallende Maßnahmen ergreifen mögen, um das Zusatzprotokoll zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung über das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebietskörperschaften (STCE N°207) zu ratifizieren.